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Nathan Gray und „Working Title“ - Comfort Binge

Ein nimmermüder Punkmusiker kredenzt seiner nach neuen Klängen lechzenden Hörerschaft zwei Jahre nach „Feral Hymns“ ein weiteres Solo-Studioalbum. Doch trotz unbestreitbarer Vorzüge erwischt man den US-Amerikaner immer wieder dabei, wie er sich der Macht der Gewohnheit hingibt.

Wir sollten ehrlich sein: Wer hat ihn nicht? Diesen einen Film, der trotz dutzender Durchläufe mit jedem Mal besser zu werden scheint? Dieses eine Buch, dessen Handlung dem Leser unter normalen Umständen meterweit zum Hals raushängen müsste? Dennoch fällt es einem immer wieder in die Hände. Oder diese eine Band, welche sich seit Jahrzehnten nurmehr selbst kopiert und dabei doch ihren ganz eigenen Reiz ausstrahlt? Die nächste Platte wird dennoch treu ergeben gekauft: Koste es, was es wolle. Auch Nathan Gray kann sich von derlei menschlichen Abgründen nicht frei machen und bestätigt das sogenannte „Paradoxon der Wahlmöglichkeiten“. Trotz genreübergreifender Produktionen (wer hätte vor der Jahrtausendwende Rap mit Stromgitarren kombiniert?) und verschwimmenden Grenzen zieht man sich doch gerne in die heimelige Komfortzone zurück.

Dass das nicht zwangsläufig negative Ausprägungen mit sich bringen muss, zeigt „In My Defense“ gleich zu Beginn. Nathan Gray steht mit dem richtigen Bein auf und schmettert einen ungemein hartnäckigen Refrain heraus, der schlichtweg Freude bereitet. Gleiches gilt für die astrein dargebotenen Gassenhauer „Hold“ und „The Markings“. Speziell letzterer ist ein unmissverständliches Indiz für die musikalischen Wurzeln des Herren Gray. Nachdem das Gefieder nun entstaubt und alle Gemütlichkeit mit Fackeln und Mistgabeln aus dem Dorf gejagt wurde, greift der US-Amerikaner zu gediegeneren Stilmitteln. „Still Here“ erinnert verdächtig an Green Days „Still Breathing“ (hymnischer Radio-Rock mit einer guten Portion Pathos) und spätestens „Mercy“ ist förmlich für Radio-Airplay geschaffen. Zunächst allein von der Akustik-Klampfe begleitet, trägt der Liedermacher seine Lyrics mit reichlich Elan vor und empfindet dabei hörbar jede einzelne Zeile nach. Hier findet man wahrhaftig den musikalischen Frieden.

Nebenher bleibt auch noch ein wenig Freiraum für die künstlerische Entfaltung. „I´m A Lot“ kann sich nicht abschließend zwischen Stoner und dem Rocksound der Südstatten entscheiden. So lässt sich ein lauer Sommerabend entspannt ausklingen. Der Titeltrack ist nicht etwa eine verträumte Ode an die Szenegrößen des Brit-Pop (Oasis, irgendjemand?), sondern bäumt sich mit einem hervorragenden, hochkarätig besetzten Feature zu einem wahren Leitwolf auf. Normalerweise verträgt sich keine Ballung von Alphamännchen, doch „No Way“ nimmt den Windschaden der anderen Tracks mit und wechselt blitzschnell auf die Überholspur. Ein dramaturgischer Höhepunkt und mit Sicherheit eines der Highlights auf „Working Title“. Weil Musik zuweilen eine therapeutische Wirkung erzielen kann, arbeitet Gray vermeintlich autobiographische Inhalte auf („What About You?“, „The Fall“ oder „Never Alone“) und setzt mit „Down“ einen punktgenauen Abschluss. Entgegen dem in der weltweiten Musikwirtschaft anhaltenden Trend zur Vermarktung generischer Plastikprodukte steht hier ein Künstler mit Leib und Seele hinter seinem Schaffen. Eine runde Sache.

Menschliches Seelenleben stielt den politischen Abrechnungen auf „Working Title“ ihre Show. Obwohl Nathan Gray seit geraumer Zeit auf einem schmalen Grat zwischen Authentizität und überschwänglichem Pathos balanciert, verliert er doch nie das sorgsam antrainierte Gleichgewicht. Zahlreiche Karriererückschläge haben einen gefestigten Musiker hinterlassen, der sich das Prädikat „Wadenbeißer“ redlich verdient hat. Und was spricht gegen die Comfort Binge, wenn diese doch für sich spricht?

Fazit

7
Wertung

Nach bemerkenswerten Akustikabenteuern ist Mr. Gray zu seiner wahren Beheimatung zurückgekehrt: Mitreißende Hooks, einprägsame Melodien und gehaltvolle Texte. So darf es gerne weitergehen.

Marco Kampe
6
Wertung

Die starken Texte auf "Working Title" können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Nathan Gray ein wenig von seiner musikalischen Substanz verloren hat. Was bleibt ist ein gutes Album, das aber besser hätte inszeniert werden können. Dass er es kann, hat Gray oft genug bewiesen.

Moritz Zelkowicz